Vor dem Aufstand in Syrien: Das syrische Regime ist wie ein Gespenst, das Kinder in den Schlaf treibt. Aber es ist ein echtes Gespenst, kein Phantasieprodukt der Mütter. Ihm gehören Gefängnisse und Friedhöfe, in denen Erwachsene und Kinder mitsamt ihren Müttern und Spielsachen eingesperrt und begraben werden können. Es kann ganze Städte gefangen nehmen. Dieses Gespenst regiert Syrien seit 1963.

Kinder von Darʿā: Wie die anderen syrischen Städte hatte auch Deir ez-Zor ausreichend Anlass zur Rebellion. Da sie jedoch in wirtschaftlicher Hinsicht die reichste Stadt war, hatte sie ein besonderes Verhältnis zur Familie Assad. Sie wurde so vernachlässigt, dass sie immer als „vergessen“ galt. Das vergessene Deir ez-Zor ist ein Sonderfall in der Revolution, denn es hat alle Phasen durchlaufen und war Zeuge der Bildung aller Parteien, einschließlich lokaler Koordinationskomitees, der Freien Syrischen Armee und islamischer Gruppen. Die Stadt war allen Schikanen des Regimes ausgesetzt, einschließlich Verhaftungen, Massenerschießungen, Massakern, Bombardierung, Belagerung, Vertreibung und Aushungern.

Die Kinder von Darʿā widersetzten sich der Geschichte des Gespenstes und gründeten am 27. Februar 2011 die syrische Revolutionsbewegung. Die Antwort des Regimes war eindeutig: Es würde weiterhin nach den Methoden von Hafez al-Assad, dem Vater des Regimes, vorgehen. Was nicht durch Druck erreicht werden konnte, wurde mit extremer Gewalt gelöst. Die Revolution begann am 15. März 2011. Die Menschen erklärten, dass eine Rebellion zwar Verluste mit sich bringen werde, sie sich aber nicht mehr fügen würden. Die Frage nach dem Möglichen und dem Unmöglichen war geklärt – das Unmögliche war möglich geworden.

Der erste Freitag der syrischen Revolution: Am 18. März 2011, dem ersten Freitag der syrischen Revolution, töteten Truppen des Regimes vier Zivilisten in Darʿā. Die Nachricht verbreitete sich in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer. Im großen Stadion in Deir ez-Zor war die Entrüstung weit größer als die Begeisterung für Fußball. Die Massen kochten vor Wut über die Geschehnisse in Darʿā und verließen das Fußballspiel, um ihren Zorn zum Ausdruck zu bringen. Sie zündeten unter anderem ein Auto des Militärischen Sicherheitsdienstes an.

Die erste Demonstration in Deir ez-Zor: Der 25. März 2011 gilt als der Tag, an dem sich Deir ez-Zor offiziell den Protesten anschloss. In einer Demonstration, die von der Othman-Moschee ausging, wurden als Zeichen der Solidarität mit Darʿā Banner gehisst und Freiheit gefordert. Später wurde dieser Ort zu einem Sinnbild für die Revolution in der Stadt. Das Regime betrachtete die Moschee als persönliches Feindbild, da dort die erste Demonstration und dann am 6. Mai 2011 der erste öffentliche Sitzstreik stattfand. Dieser Protest richtete sich gegen die Verhaftung mehrerer Aktivisten aus Deir ez-Zor und dauerte drei Tage.

Notstandsgesetz und „Guter Freitag“: Am 21. April 2011 hob Bashar al-Assad das seit 1963 geltende Notstandsgesetz auf. Daher trug der Freitag, 22. April, seinen Namen im wahrsten Sinne des Wortes: Guter Freitag. An diesem Tag zog sich die Militärpolizei für mehrere Stunden zurück und nahm den Status eines Beobachters ein, während die Demonstranten zu Zehntausenden auf die öffentlichen Plätze strömten. In ganz Syrien, auch in Deir ez-Zor und nahe gelegenen Städten wie Mayadin und Al-Bukamal, zertrümmerten Demonstranten Statuen von Assad, dem Vater, und seinen beiden Söhnen. Sie erhöhten ihre Forderungen und wählten den Slogan „Das Volk will das Regime stürzen“. Bei der Versammlung nach dem Guten Freitag verschärften die Sicherheitskräfte ihr Vorgehen und nahmen vermehrt Festnahmen vor. Dies hatte zur Folge, dass die Demonstranten immer wütender wurden.

Erster Märtyrer in Deir ez-Zor: Am 3. Juni 2011 hätten alle friedlich zu Bett gehen können. Doch die Tötungsmaschine wollte das nicht zulassen, denn der Überlebensinstinkt des Regimes dominierte über rationale Prozesse und intelligentes Verhalten. An dem Freitag, der in Gedenken an die Kinder von Darʿā „Kinder der Freiheit“ genannt wurde, wurde bei den Demonstrationen in Deir ez-Zor der Junge Moath Al-Rakkad zum ersten Märtyrer. Sein Märtyrertod hat den Spieß umgedreht, und die Straßen wurden zum Terrain der Demonstranten. Dies hatten sie sich durch das Blut ihrer Märtyrer verdient. Die Sicherheitskräfte waren nicht mehr in der Lage, Proteste oder Sitzstreiks aufzulösen oder Beerdigungen zu verhindern, auch wenn sie bei jedem Versuch Märtyrer erzeugten.

Der Fall des Minaretts der Othman-Moschee: Vom 1. bis 7. August 2011 trafen täglich zahlreiche Militärtruppen in Deir ez-Zor ein. Am Morgen des 8. August 2011 stürmte das Regime mit 200 Panzern Deir ez-Zor und die Stadt Hama mit der Begründung, man müsse „terroristische Banden“ ausschalten, die die Zivilbevölkerung terrorisierten. Am 10. August 2011 begann die syrische Armee mit der Bombardierung des Minaretts der Othman-Moschee als Vergeltung für die Demonstrationen, die dort stattgefunden hatten. Zudem stieg in zahlreichen Stadtteilen die Zahl der zivilen Todesopfer. Die Sicherheitskräfte veranlassten unter dem Schutz des Militärs sowohl auf dem Land als auch in der Stadt eine Verhaftungskampagne, von der mindestens 20.000 Zivilisten betroffen waren.

Das Entstehen der Freien Syrischen Armee: Die Syrer haben negative Erinnerungen an ihr Militär, die bis ins Jahr 1982 zurückreichen. Das Eintreffen des Militärs in der Stadt 2001 schwächte die Protestbewegung. Diese Truppen schienen dazu ausgebildet zu sein, Bürger zu töten, und zwar ausschließlich Bürger. Am 15. Oktober 2011 wurde der Aktivist Ziad al-Obeidi, ein Reporter des Syrischen Zentrums für Menschenrechte, ermordet und seine Leiche vom Balkon seines Hauses geworfen. Am 13. November 2011 wurde der Junge Muhammad al-Mulla Issa ermordet. Diese und ähnliche Morde sorgten für Entsetzen. Die Demonstrationen wurden fortgesetzt.

Die Freie Syrische Armee erobert Teile von Deir ez-Zor: Die Sicherheitskräfte begannen, die Einheiten der Freien Syrischen Armee pausenlos anzugreifen. Am 18. März 2012 begingen die Sicherheitskräfte zusammen mit einer Einheit gepanzerter Militärfahrzeuge ein großes Massaker im Stadtteil Rusafa. Sie töteten 20 Kämpfer der Freien Syrischen Armee und warfen ihre Leichen von den Dächern. Dieses Massaker wiederholte sich in anderen Gebieten, was dazu führte, dass sich die Freie Syrische Armee mit leichten Waffen in einen offenen Kampf mit den Regimetruppen begab. Die Freie Syrische Armee kontrollierte die inneren Stadtteile, während das Regime die Stadtteile Al-Qusour und Al-Jura als Zentrum für seine Operationen besetzte. Am 22. Juni begann der Artilleriebeschuss der Stadt, der täglich mindestens 50 Zivilisten das Leben kostete. Das Militär belagerte die inneren Stadtteile, und das Regime begann mit dem Einsatz von Kampfflugzeugen zur Unterdrückung des Widerstands. Am 16. September 2012 kam es in der Stadt zu einer großen Abwanderung.

'Ankunft der Todesbrigaden in Deir ez-Zor: Am 24. September 2012 traf die Spezialeinheit des syrischen Regimes, die Republikanische Garde, in Deir ez-Zor ein. Zivilisten nannten sie „Todesbrigaden“. Diese Kräfte standen unter dem Kommando von Maher al-Assad, dem jüngeren Bruder von Bashar al-Assad. Zunächst stürmten sie Stadtteile, die hauptsächlich unter der Kontrolle des Regimes standen, und richteten dabei ein Blutbad an mindestens 200 Zivilisten an. Laut Berichten wurden ganze Familien, einschließlich Frauen und Kinder, getötet. Die Republikanische Garde führte ihre Kampagne in den inneren Stadtvierteln auf der Grundlage der Taktik „Verbrannte Erde“ fort.

Aktivisten aus Deir ez-Zor gründen den Kommunalrat von Deir ez-Zor: Die Stadt war verlassen, mit Ausnahme der Zerstörung, der Kämpfer, einiger Aktivisten, weniger Bürger, die sich eine Flucht oder Umsiedlung nicht leisten konnten, und derer, die sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen. Der Widerstand der Freien Syrischen Armee setzte sich trotz systematischer Zerstörung und ständiger Bombardierung fort, und inmitten ihrer Kämpfe herrschte an den Fronten abwechselnd Aufflammen und Ruhe. Diejenigen, die in der Stadt geblieben waren, versuchten, mit dem Kriegszustand zurechtzukommen, und belebten die Stadt wieder, indem sie einen Kommunalrat zur Verwaltung städtischer Angelegenheiten bildeten. Später, im Juli 2014, stieß der IS von seinem Machtbereich aus gegen die Freie Syrische Armee vor, dehnte seinen Einflussbereich auf das Stadtzentrum aus und eroberte die Stadt Deir ez-Zor und den Fluss. Sie ermordeten zahlreiche Zivilisten, wie etwa bei dem Massaker von Shaitat Mitte August 2014, bei dem Hunderte von Menschen starben und Dutzende als vermisst gemeldet wurden.

Der IS übernimmt Deir ez-Zor und terrorisiert die Bürger: Die Herrschaft des IS war lang, hart, sehr düster, und es floss reichlich unschuldiges Blut. Er hat der Revolution in Deir ez-Zor ebenso geschadet, wie das Regime in den ersten drei Jahren der Revolution. Er eliminierte die Widerstandsgruppen und inhaftierte viele Aktivisten und Anführer der Freien Syrischen Armee. Dies zeigt der IS in verschiedenen Veröffentlichungen. Das Video „Die Offenbarung des Teufels“, das am 25. Juni 2015 verbreitet wurde, zeigt die Hinrichtung von fünf der ersten Medienaktivisten der Stadt unter Einsatz brutalster Methoden, wie Bombardierung und Erstickung. Darüber hinaus ließ die Organisation am 13. September 2016, dem ersten Tag des Eid al-Adha, 19 junge Männer aus Deir ez-Zor im Schlachthof der Stadt hinrichten. Ihnen wurde vorgeworfen, mit der internationalen Koalition zusammenzuarbeiten, um der Zivilbevölkerung Angst einzujagen und Propaganda zu verbreiten.

Furcht vor dem Regime und Vertreibung in Richtung des östlichen Euphrat: Aus Angst vor den Regimekräften erlebten die Menschen auf dem Land östlich des Flusses eine erhebliche Abwanderung in das Gebiet westlich des Flusses. Dieses Gebiet befand sich unter der Kontrolle der Demokratischen Kräfte Syriens, die von den Koalitionstruppen im Kampf gegen den IS unterstützt wurden. Bei der Überquerung des Flusses starben viele Zivilisten. Sie wurden zwischen September und Oktober 2017 von russischen Flugzeugen regelrecht massakriert.

Der Konflikt zwischen den einzelnen Kräften – der Koalition, den Demokratischen Kräften Syriens, Russland, dem Iran und dem Regime – ist in Deir ez-Zor nach wie vor ausschlaggebend und hat erheblichen Einfluss auf die Stabilität der gesamten Region. Sollte es nicht gelingen, Stabilität herzustellen, könnte der IS mit Gewalt in das Gebiet zurückkehren. Es wäre unangemessen, nicht zu erwähnen, dass Deir ez-Zor für das Regime eine globale politische Blamage darstellte, als sich zwei seiner Söhne von hohen politischen Positionen abwandten und sich dem Widerstand anschlossen. Der erste war der syrische Botschafter im Irak, Nawaf Al-Fares, im Juli 2012, der zweite war Premierminister Riad Al-Hijab im August 2012.